Traditionelles chinesisches und europäisches Denken werden meist als verschiedenartige Phänomene betrachtet und daher werden – mit wenigen Ausnahmen – nur zeitlich und thematisch verwandte Inhalte miteinander verglichen. Es gibt jedoch Aspekte des klassischen chinesischen Taoismus, die erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem mehr als zweitausend Jahre jüngeren und aus ganz anderen historischen Motiven entwickelten europäischen Liberalismus aufweisen. Dabei handelt es sich keineswegs nur um nebensächliche Einzelheiten, sondern um die wichtigsten Prinzipien beider Lehren, deren wesentliche Aussagegehalte und Konsequenzen, trotz aller zeitlich und kulturell bedingten Unterschiede, in ihrem Anliegen identisch sind.
Der klassische Taoismus geht von einer spontanen Selbstorganisation der Welt und aller ihrer Untersysteme nach einem dialektischen Prinzip aus, die in bestimmten Denkansätzen des europäischen Liberalismus ebenfalls vorkommt. Die menschliche Gesellschaft wird daher übereinstimmend als ein sich selbst regulierendes System und Eingriffe der Menschen in dessen spontane Abläufe als Störungen aufgefaßt. Damit hängt auch die grundsätzlich ablehnende Einstellung beider Theorien gegenüber staatlicher Tätigkeit zusammen, die einerseits im taoistischen Prinzip des Nichtstuns des Herrschers oder dessen Auffassung als Wächter, andererseits in den liberalen Theorien der Machtbeschränkung zum Ausdruck kommt. Auch die Handlungsmaximen beider Lehren und das Postulat der Freiheit in ihren verschiedenen Auffassungen besitzen gemeinsame Aspekte. Interessant sind ferner die parallelen Abweichungen vom klassischen Liberalismus, die inhaltliche Ähnlichkeiten mit Umdeutungen des späteren Taoismus aufweisen.
Durch einen Vergleich von theoretischen Prinzipien, gesellschaftlichen Konzepten und konkreten Ansichten des alten chinesischen Taoismus mit den Theorien der wichtigsten Vertreter des abendländischen Liberalismus werden hier all diese Gemeinsamkeiten zum ersten Mal systematisch aufgedeckt und erörtert.