Seneca will seinen jüngeren Freund Lucilius mit den Göttern versöhnen, denn dieser kann nicht verstehen, warum guten Menschen so viel Leid widerfahre, während schlechte alle Annehmlichkeiten des Lebens genießen können, und klagt dafür die göttliche Vorsehung an. Um ihm das planvolle Walten der Vorsehung verständlich zu machen, vergleicht er die Götter mit strengen Vätern, denn sie erziehen gute Menschen recht hart, um sie stark und gottähnlich zu machen.
Seneca sieht sich selbst in der Rolle des strengen Vaters und bezieht den Lucilius in seine Betrachtung mit ein. Bevor er mit seiner eigentlichen Argumentation beginnt, gibt er dem Lucilius etwas zu bedenken: „cogita filiorum nos modestia delectari, vernularum licentia, illos disciplina tristiori contineri, horum ali audaciam“.
Die hier zitierten Übersetzungen dieser Textstelle lassen für Seneca das Bild eines Vaters entstehen, der seine eigenen Söhne mit strenger Disziplin im Zaume hält und sich an deren Bescheidenheit erfreut, den im Haus geborenen Sklavenkindern aber wohlwollend Freiheiten gewährt, deren Entwicklung zu Dreistigkeit und respektlosem Verhalten er willentlich fördert, bzw. billigend in Kauf nimmt; die Schlechten, auf deren vermeintliches Glück Lucilius mit Unverständnis schaut, finden dabei keine Erwähnung.
Eine semantische Analyse der sinntragenden Wörter dieser Textpassage auf der Grundlage von Senecas philosophischen Schriften ermöglicht eine Neuinterpretation, die eine andere Botschaft an Lucilius deutlich werden lässt: gute und strenge Väter erziehen ihre Söhne zu einem Leben nach dem Maße Gottes („modestia“); sie halten sie frühzeitig zum Lernen und Arbeiten an, mit vielen Zumutungen, die den Sklavenkindern erspart bleiben; schlechte Menschen dagegen verharren in ihrer korrupten Geisteshaltung („disciplina tristiori“) als Sklaven ihrer Affekte und Begierden, welche sie das Maß der göttlichen Vernunft vergessen lassen. Seneca stellt diese auf eine so niedere sittliche Stufe, dass ein Sklave, sollte er zur Freiheit seines Geistes gelangt sein, auf sie herabschauen müsste.
Zur Interpretation und Übersetzung von Seneca ‚De providentia I,6′
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Produktnummer: 12694 ISBN: 978-3-86888-174-5 Kategorien: Altertumswissenschaften, Geschichte und Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Antike, Literatur-, Sprach- und Kommunikationswissenschaften, Literatur- und Sprachwissenschaften Schlüsselworte: Seneca, Altphilologie, Latinistik, Klassische Philologie, Kommentar, Latein, lateinische Sprache, Antike Zielgruppe: Altphilologen, Althistoriker Autor: Kogelschatz, Brigitte
Auflage | 1. Aufl. |
---|---|
Umschlag | Broschur |
Jahr | 2021 |
Maße | 148 x 210 |
Seiten | 50 |
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