Diese Arbeit geht zum einen von Hölderlins Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1804 aus, in dem er erläutert, weshalb er Sophokles’ Tragödien übersetzen wolle. Zum anderen stützt sie sich auf die entscheidende und umstrittene Aussage Hölderlins in seinem Brief an den Verleger Wilmans: „Ich hoffe, die griechische Kunst, die uns fremd ist, durch Nationalkonvergenz und Fehler, mit denen sie sich immer herum beholfen hat, dadurch lebendiger, als gewöhnlich dem Publikum dazustellen, daß ich das Orientalische, das sie verläugnet hat, mehr heraushebe, und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere.“ Damit greift er das Klassikideal Winckelmanns in der Zeit an, wo der Konflikt der Romantik mit dem Klassizismus heraufdämmert.
Die Fragestellung des Autors ist darauf gerichtet, zu zeigen, wie sich in der modernen europäischen Literatur und Übersetzungstheorie die Auseinandersetzung des Dichters mit Sophokles und dem Drama des 5. Jahrhunderts v. Chr. widerspiegelt.
Hölderlin zog das Unveränderliche des Wortsinnes, den Absolutismus des klassischen Dramas und den Urvater des „Ödipus“ und der „Antigone“ in Zweifel. Brecht, der für seine „Antigone“-Aufführung 1948 in Chur die Hölderlinsche Übersetzung zugrunde legte, folgte der Auffassung Hölderlins vom Verhältnis zwischen Original und Übersetzung, indem er diese als eigenständiges Werk ansah.
Ödipus’ körperliche Behinderung symbolisiert die intellektuelle Behinderung des Jahrhunderts der Aufklärung, die mit ihrer Forderung nach Rationalismus (körper)behinderte literarische Gestalten hervorbringt, die an Stelle des „heiligen Tyrannen“, des Sündenbocks der mythischen Zeit, als verführende Zauberer, Diktatoren und monströse Wissenschaftler auftreten. Sie finden sich in den Werken von Heinrich von Kleist, Knut Hamsun, Franz Kafka, Ezra Pound, Thomas S. Eliot, Thomas Mann, Giannis Skarimbas u. a. Unter ihnen steht Hölderlin wie ein hinkender „heiliger“ Tyrann inmitten der Wörter.