Das Lehrbuch der Medizin, das der in Baiern gebürtige und in Würzburg tätige Chirurg Ortolf gegen Ende des 13. Jahrhunderts verfasst hat, gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Texten des Mittelalters. Es wurde nicht nur in rund 80 Handschriften vollständig überliefert, sondern diente auch als „Steinbruch“ für Kompendien aller Art, so dass es nur wenige medizinische Sammelhandschriften gibt, in denen überhaupt keine Spur von Ortolf zu finden ist. Auch der Sprung in den Buchdruck ist gelungen. Fragt man nach den Gründen für diese breite und andauernde Wirkung, so ist zunächst die Breite des medizinischen Wissens zu nennen: Sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die Harn-, Puls- und Blutdiagnostik als auch eine ausführliche Krankheitslehre mit Therapieempfehlungen und sogar wundärztliche Ratschläge sind in dem Buch enthalten. Und der zweite Grund ist die ausgeprägte Kürze bei stringenter innerer Logik: Das Wissen aus gelehrten Quellen wird auf Wesentliches kondensiert, in merksatzartigem Stil präsentiert und über die unterschiedlichen Themenkreise hinweg miteinander verknüpft. Kein anderer volkssprachiger medizinischer Text des Mittelalters ist von dieser souveränen Qualität.
Die nun vorgelegte Übersetzung aus dem Mittelhochdeutschen in Gegenwartsdeutsch möchte diesen interessanten Text endlich einem interdisziplinären Publikum zugänglich machen, denn Denkstrukturen, Herangehensweisen, Möglichkeiten und Grenzen der mittelalterlichen Medizin lassen sich an diesem repräsentativen Beispiel wie an kaum einem anderen Text erläutern und verdeutlichen. Der Übersetzung ist eine kurze Einführung in die Medizin des Mittelalters vorangestellt, und sie wird ergänzt durch einen Kommentarteil, der Ortolfs Therapieempfehlungen vor dem Hintergrund seiner Zeit erklärt und zu heutigen Behandlungsformen in Beziehung setzt.