Die Europäisierungsdebatten sind als semantische Deutungskämpfe um das Thema zu verstehen, ob eine transnationale Solidarität aus der traditionell nationalen entstehen kann und welche sozialrechtliche, wirtschaftliche, kulturelle Gestalt die europäische Gemeinschaft annehmen soll. Die Entstehung und die anschließenden Erweiterungen der Europäischen Union sind nicht nur begleitet durch einen Prozess der Herausbildung eines supranationalen Konstitutionalismus, sondern entsprechen in ihrem Wesen einem solchen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht bedeutet diese Aufgabe die Suche nach einer juristischen Sprache, die das Konzeptualisieren der neuen Realität ermöglicht.
Im Zentrum dieser Untersuchung steht die semantische und juristische Konstruktion von gesellschaftlicher Ordnung in den Verträgen der Europäischen Union, vor allem im Vertrag von Lissabon. Bei der Beurteilung des europäischen Verfassungsprozesses als defizitär und der europäischen Integration als zum Scheitern verurteilt, wird die sprachwissenschaftliche diachrone Perspektive ausgeklammert. Das Ziel dieses Beitrags ist die Untersuchung des Bedeutungswandels der zentralen Verfassungsgrundsätze in der Geschichte der Herausbildung einer neuen supranationalen Rechtsordnung. Die Überlegungen dieses Beitrags sollen überdies zu dem Verständnis, wie eine supranationale Gemeinschaft sprachlich erschaffen werden kann, beitragen. Die konstitutive Rolle der Sprache, der Sprachgebrauch im Akt der Kreation einer Institution und Gemeinschaft im weiteren Sinne stehen im Fokus dieses Buches.